Als das mit den Zeitreisen noch möglich schien, regnete es fast die
ganze Zeit. Torben ging trotzdem immer raus ans Meer, und kam ein paar
Stunden später vollkommen durchweicht zurück, strahlend und laut, und
zog sich noch an der Eingangstür bis auf die Unterhose aus, um den
Teppich vor Stockflecken zu bewahren. Während er duschte, deckten
Katharina und ich den Tisch, und beim Abendessen erzählte Torben
dann von der neuen Route, die er ausprobiert hatte, vom Klettern auf
glitschigen Felsen und von Aussichten, die wir uns keinesfalls entgehen
lassen sollten, Regen hin, Regen her. Und was habt ihr so gemacht, fragte
er anschließend, und Katharina sagte: Dies und das, und ich sagte nichts.
Dies und das traf auch auf mich zu.
Nach dem Abendessen spielten Torben, Katharina und ich immer Fangden-
Hut. Das war das einzige Spiel im Haus, bei dem nicht die meisten
Teile fehlten. Ich glaube nicht, dass einer von uns wirklich gerne spielte,
aber nach ein paar Tagen gehörte es ungefragt zur Abendgestaltung.
Wir waren beim Spielen nie sehr konzentriert, schoben beiläufig unsere
Hütchen übers Brett und redeten dabei über andere Dinge, sodass wir
ständig vergaßen, wer als nächstes mit Würfeln an der Reihe war und
es willkürlich festlegen mussten. Irgendwann dann, auch mitten in einer
Partie, gähnte einer von uns, meistens Katharina, dann sagte ein anderer,
meistens ich: Ja, ich bin auch müde, und dann gingen wir ins Bett.
Das heißt, Torben und Katharina gingen ins Bett, ich ging aufs Sofa im
Wohnzimmer. Da hatte es keine Diskussion gegeben. Ich war schließlich
der Gast, und Katharina und Torben waren schließlich das Paar, und
schließlich war es Torbens Onkel, dem das Haus gehörte, und schließlich
blieben Katharina und Torben den ganzen Sommer und ich nur neun
Tage, in denen ich so wenig wie möglich zur Last fallen wollte.
Das Haus war ein kleines Ferienhaus in der Normandie und stand, wie
Torben mir erzählt hatte, seit der Scheidung des Onkels die meiste Zeit
leer und somit dem Rest der Familie zur Verfügung. Torben hatte mich
Mitte Juni gefragt, ob ich nicht Lust hätte, ihn und Katharina dort zu
besuchen. Ich war über die Einladung etwas überrascht gewesen, aber
Torben hatte anscheinend viele gefragt. Mindestens drei oder vier andere
wollten auch kommen, hatte er gesagt, und das würde doch bestimmt
schön, viel Schwimmen, viel Essen, viel Schlafen, und ich hatte gesagt,
dass ich es mir überlegen würde. Ende Juli überlegte ich es immer noch,
und im August wurde die Stadt leer und mir fiel auf, dass es eigentlich gar
nicht viel zu überlegen gab, und Anfang September hörte ich damit auf
und kaufte mir eine Fahrkarte.
Dass die mindestens drei oder vier anderen allesamt schon wieder
abgereist waren, erfuhr ich erst, als Katharina und Torben mich am
Bahnhof abholten, und da war es zu spät, um jetzt wieder mit dem
Überlegen anzufangen. Ist das auch okay, fragte ich, und Torben sagte:
Natürlich, und ich schaute Katharina an. Sie zuckte mit den Schultern und
sagte auch: Natürlich.
Ich kannte Katharina und Torben seit ungefähr zwei Jahren und, wie mir
am Bahnhof auffiel, nicht besonders gut. Am Bahnhof war ich zum ersten
Mal alleine mit den beiden, sonst waren sie immer nur mit dabei, waren
Katharinauntorben - Katharinauntorben kommen etwas später, Hast
du was von Katharinauntorben gehört, Den leckeren Obstsalat haben
Katharinauntorben mitgebracht -, und jetzt am Bahnhof war das und
plötzlich unübersehbar, und als ich ohne zu überlegen Wie geht es Euch?
fragte, klang das zum ersten Mal falsch. Großartig, sagte Torben, und er
sagte es anscheinend für beide.
Am Tag meiner Ankunft regnete es noch nicht. Wir gingen, nachdem
ich mich angemessen bewundernd über das Haus geäußert hatte, ans
Meer. Torben und ich spielten Strandtennis, Katharina lag auf einem
großen bedruckten Badetuch, las ein Buch, und sah nicht einmal auf,
wenn der Ball dicht neben ihrem Kopf im Sand landete. Man schwamm
plangemäß viel an diesem ersten Tag, man aß plangemäß viel und ging
nach zwei oder drei Partien Fang-den-Hut plangemäß früh Schlafen, und
am nächsten Tag setzte dann der Regen ein, und Torben sagte: Ich bleibe
aber nicht den ganzen Tag hier drinnen. Er zog sich eine Jacke an und
probierte neue Routen aus, und Katharina und ich machten dies und das.
Es ist wahrscheinlich ungerecht, den Regen allein für dies und das
verantwortlich machen zu wollen, dafür, dass dies und das dann
nicht nur Lesen und Abendessenvorbereiten blieb und auch nicht nur
Spülen und Abtrocknen, sondern weiter ging bis zum Duschen und
Spurenbeseitigen. Den Regen trifft keine Schuld, auch wenn es ohne ihn
wohl nicht dazu gekommen wäre, auch wenn ich bisweilen hoffte, dass
er endlich aufhören würde, und es plötzlich nicht mehr natürlich wäre,
im Haus zu bleiben und dies und das zu tun, und man das Ganze als
eine witterungsbedingte Störung hätte abtun können. Doch der Regen
hörte erst am Tag vor meiner Abreise auf, als es schon zu spät war, um
noch irgendetwas abzutun. Es dem Regen zuzuschreiben, ist leider kaum
haltbar, und dennoch bin ich mir beinah sicher, dass ohne ihn der Urlaub
nach Plan verlaufen wäre, viel Schwimmen, viel Essen, viel Schlafen,
meinetwegen sogar viel Fang-den-Hut. An dem Plan an sich war
schließlich nichts auszusetzen.
Am ersten Regentag sah dies und das, die Abweichungen vom Plan,
auch noch anders aus, schien lediglich eine nur vorübergehende
Unterbrechung zu sein. Katharina lag auf dem Sofa und las, und ich
spülte erst das Geschirr vom Mittag und bereitete dann das Abendessen
vor, auch wenn es noch viel zu früh dafür war. Hin und wieder kochte ich
einen Kaffee, dann setzte Katharina sich kurz zu mir an den Tisch, und
wir waren höflich. Was liest du, fragte ich sie beim zweiten Kaffee, und
Katharina sagte: Etwas über Zeitreisen. Wissenschaftlich, betonte sie,
und um das zu beweisen, nannte sie ein paar Namen, die sogar mir etwas
sagten, und sie erzählte etwas von Quanten und Raumzeitkrümmung,
von Photonen, von Singularität erzählte sie und von einer Mozartsonate,
die für ein paar winzige Bruchteile von Sekunden rückwärts in die Zeit
geschickt wurde, und auch von ein oder zwei thermodynamischen
Gesetzen. Am meisten erzählte sie von Wurmlöchern. Ich verstand nicht
viel davon, und ich weiß nicht, ob Katharina selbst es verstand, aber sie
erzählte es gut, mit ihrer präzisen Stimme und den Blick so konzentriert
auf mich gerichtet, dass ich ständig blinzeln musste. Wenn es gelänge,
ein Wurmloch festzuhalten, sagte Katharina, dann müsste es möglich
sein, Teilchen von einem zweiten Wurmloch dorthin zu schicken, also
zurück in die Zeit, in der das erste Wurmloch fixiert wurde. Man wisse nur
leider noch nicht, wie man Wurmlöcher festhalten kann, sagte sie und
sah mich dann an, als ob sie von mir einen Vorschlag dazu erwartete.
Ich wusste aber noch nicht mal, was ein Wurmloch überhaupt war, und
um auch endlich etwas beizutragen, das mehr war als ein Nicken, fragte
ich, ob das hieße, dass man die Teilchen frühestens in die Zeit des ersten
festgehaltenen Wurmlochs schicken könnte, und Katharina sagte: Ja,
alles davor ist nicht mehr zu erreichen. Dann ging sie wieder zurück aufs
Sofa, und ich kümmerte mich weiter ums Abendessen, und als Torben
etwas später zurückkehrte, war er durchnässt und glücklich, und bei
Fang-den-Hut wurden die Zeitreisen dann nicht mehr erwähnt.
Am zweiten Regentag begleitete ich Torben, weil ich versuchte, mein
Stören so gerecht wie möglich aufzuteilen. Er sagte: Gut, und wir liefen
los. Innerhalb weniger Minuten klebte meine Hose an den Beinen,
meine Füße machten saugende Geräusche in den undichten Schuhen,
Regenwasser lief mir aus den Haaren in die Augen, und ich sah fast gar
nichts von dem, was Torben in Begeisterung versetzte. Nach ungefähr
einer halben Stunde sagte ich, dass ich lieber wieder ins Trockene wolle.
Torben sagte wieder: Gut, und ging alleine weiter, und ich lief zurück zum
Haus. Katharina lag auf dem Sofa und las. Immer noch keine Lösung für
die Wurmlöcher, fragte ich sie, nachdem ich mich umgezogen hatte. Nein,
sagte Katharina, noch nicht.
Ich begleitete Torben danach nicht mehr. Morgen vielleicht, sagte ich, als
er mich am nächsten Regentag fragte. Ich hatte meine Beschäftigungen
schließlich gefunden, ich spülte, kümmerte mich ums Abendessen und
fiel so wenig zur Last wie möglich. Katharina lag lesend auf dem Sofa,
und wir wechselten den ganzen Nachmittag über kaum ein Wort. Nur
wenn bei einer starken Böe der Regen für ein paar Sekunden gegen die
Fensterscheibe geworfen wurde, sahen wir beide kurz auf.
Am vierten Regentag sagte Katharina dann: Ich bin durch. Sie legte
das Buch zur Seite, kam zu mir an die Spüle und nahm sich ein
Geschirrhandtuch. Ich reichte ihr die Teller, sie trocknete ab, und als
wir fertig waren, reichte sie mir das Tuch für meine nassen Hände und
küsste mich auf den Mund. Nicht sehr lang, aber lang genug, um sicher
zu sein, dass es sich um kein Versehen, keinen Reflex, keinen plötzlichen
Ausbruch handelte. Dann sah sie mich eine Zeit lang konzentriert
an, bis ich blinzeln musste, und dann küsste sie mich wieder. Unsere
Münder lagen geschlossen und unbeweglich aufeinander wie in einem
Schwarzweißfilm, und in einer Hand hielten wir jeweils ein Ende des
Geschirrhandtuchs, dessen nasse Kälte ich deutlicher spüren konnte
als Katharinas Lippen, und ich wunderte mich, dass ich den Kuss nicht
beendete, dass ich nicht erschrocken oder empört oder zumindest
beschämt zurückwich. Ich erinnere mich daran, dass ich darüber
nachdachte, ob es als Gast nicht unhöflich wäre, sich dem Kuss zu
entziehen, aber ich erinnere mich auch noch daran, dass ich mir das
schon damals nicht ganz glaubte. Katharina nahm ihren Mund schließlich
von meinem und hängte das Handtuch wieder an den Haken. Wir sollten
uns langsam ums Abendessen kümmern, sagte sie. Später bei Fang-den-
Hut gähnte ich als erster.
Als es am nächsten Tag immer noch regnete, war klar, dass nach dem
Mittagessen die vergleichsweise ungefährliche Zeit zu dritt wieder
vorbei sein würde. Es war klar, dass ich mich zu entscheiden hatte, und
ich wollte nichts entscheiden. Ich wollte nichts ansprechen und nichts
verschweigen und vor allem nichts zu verstehen geben, aber natürlich
gab alles etwas zu verstehen, ich war mir nur nicht sicher, was, und als
Torben mich fragte, ob ich mitkommen wolle, sagte ich: Morgen vielleicht,
und ich sagte es nur, weil es das war, was ich auch in den letzten Tagen
gesagt hatte.
Als Torben gegangen war, spülte ich die Teller, Katharina trocknete ab,
und als sie damit fertig war, wich ich nicht zurück, und dieses Mal küssten
wir uns in Farbe, und dann gingen wir rauf ins Schlafzimmer. Später,
während ich duschte, machte Katharina das Bett, und wir kümmerten uns
ums Abendessen.
Die nächsten drei Tage verliefen fast identisch. Immer wurde vorher der
Abwasch gemacht und anschließend das Abendessen. Dabei sprachen
wir wenig und nicht über das, worüber zu sprechen auf der Hand lag,
wir wechselten bei Fang-den-Hut keine verstohlenen Blicke, und als es
am Tag vor meiner Abreise aufhörte zu regnen, und Torben fragte, ob wir
denn jetzt endlich einmal mitkommen wollten, war es Katharina, die zuerst
Ja sagte. Ich wollte nicht, dass mich das störte, ich wollte nicht, dass
mich auch der ausbleibende Regen störte, schon gar nicht wollte ich,
dass es mich störte zu sehen, wie Torben Katharina bei einer der uns nun
doch nicht entgangenen Aussichten von hinten in die Arme nahm, wie
Katharina das geschehen ließ, sich sogar an ihn lehnte und ihre Wange
an seine Armbeuge schmiegte. Ich redete viel und lächelte zwischen den
beiden umher und hörte damit bis zur Abreise nicht mehr auf.
Während ich meine Sachen packte, und Torben sich ums Abendessen
kümmerte, weil er, wie er sagte, wegen meines ständigen Kochens schon
ein richtig schlechtes Gewissen hätte, fragte ich Katharina, ob ich mir das
Buch ausleihen könne. Sie zuckte kurz zusammen. Klar, sagte sie dann.
Wenn es dich interessiert.
Am Bahnhof umarmte ich erst Katharina und dann Torben, und ich
achtete darauf, dass die beiden Umarmungen von möglichst gleicher
Länge waren. Vielen Dank, sagte ich. Nichts zu danken, sagte Katharina.
Tut mir leid wegen des Wetters, sagte Torben. Sie winkten noch ein Weile
ins Fenster, ich winkte zurück und lächelte.
Im Zug las ich Katharinas Buch. Ich verstand noch weniger als zuvor, was
teilweise an den Photonen und der Raumzeitkrümmung und teilweise an
meiner fehlenden Konzentration lag. Ich verlor so häufig den Überblick
darüber, worüber es zumindest grob in einem Kapitel ging, dass ich
nach einer Zeit anfing, wahllos Seiten aufzuschlagen, ein paar Zeilen
zu überfliegen, um dann weiter zu blättern. Immer wenn mir das Wort
Wurmloch ins Auge fiel, las ich den Absatz, in dem es auftauchte. Nur
einen davon, kurz vor dem Ende, glaubte ich wirklich zu verstehen.
Darin stand, dass sich die Wissenschaft zwar einige Jahre ernsthafte
Hoffnungen gemacht habe, mit Hilfe von Wurmlöchern ein Springen
zwischen zwei Zeitebenen zu ermöglichen, man aber seit einigen Jahren
die Gewissheit habe, dass ein solches Springen unmöglich ist. Ich las
den Absatz zweimal, dann schlug ich das Buch zu. Vor meinen Augen
verschwamm bereits Belgien, in sieben oder acht Stunden würde ich zu
Hause sein. Davon war fest auszugehen.